Licht ist Wirklichkeit.
Mischa Kuball, Riken Yamamoto, Beda Faessler Lichtbrücke Berlin 2004
Nacht in einer großen Stadt. Berlin. Fenster leuchten, Häuser werden angeleuchtet. Lampen scheinen. Ein dunkles Wasser spiegelt Licht. Es ist die Spree. Ein zweites Wasser wölbt sich. Blau. Über den dunklen Fluss. Fließt das helle blaue Wasser? Will es verweilen? Was hält das Wasser fest? Die Brücke, über die es hell sein leuchtendes Blau ausbreitet? Warum fließt das Wasser nicht weg?
Hoch über dem Dunkel der Spree und neben dem Blau des Wassers auf der Brücke warten Laternen am Geländer. Sie leuchten nicht. Sie schweigen. Aber das blaue Wasser leuchtet – hell – wie das Wasser eines Swimmingpools im Sonnenlicht. Bei Nacht? Dunkler Nachthimmel. Und ein sonnenhelles Becken? Wasserblau. Schimmern. Schaukeln. Mit einem kräftigen Atemzug die Nachtluft in den Körper strömen lassen und dann – ein Sprung! Eintauchen! Sich in einem Wasserbecken frei bewegen, unter dem das Wasser eines Flusses in der Nacht dahinfließt. Ist das nicht verlockend?
Das verlockend leuchtend blaue Wasser auf der Brücke ist eine Illusion. Weißt du, was das ist – eine Illusion? Etwas, was du siehst, ist nicht da. Das blaue Wasser auf der Brücke ist nicht da. Ein Bild täuscht deinen Augen das helle, leuchtend blaue Wasser vor. Kein Bild aus Farbe auf der Leinwand eines Malers. Ein Bild aus Licht auf der Friedrichsbrücke in Berlin. Lichtbrücke. Ein Kunstwerk, das es einige Nächte lang gab. Ein Kunstraum unter freiem Himmel. Ein Gebiet aus Kunst in einer Stadt. Du hättest über die Brücke spazieren können. Eingetaucht in wasserblaues Licht. Ohne dieses Licht wäre es kein Kunstgebiet. Nur eine Brücke in der Stadt.
Es gibt Kunstwerke, die du anfassen und bei dir tragen kannst. Ein Gemälde zum Beispiel. Und die Lichtbrücke? Könntest du das Licht bei dir tragen, das wie blaues Wasser auf der Brücke leuchtet? Und die Brücke? Selbst wenn es möglich wäre, die Brücke einzustecken – stell es dir vor –, ohne das Licht, ohne das hellblaue Wasser, hättest du nur Steine in der Tasche. Hättest du das Kunstwerk bei dir? Dein Lieblingsbild hängt auch bei Dunkelheit an seiner Wand. Auch ohne Licht ist es noch da. Wenn aber auf der Friedrichsbrücke das Licht ausgeht, verschwindet auch das Kunstwerk. Weil die Lichtbrücke nur so lange besteht, wie das Licht leuchtet. Wie das Licht mit der Brücke leuchtet.
Du kannst in Licht eintauchen, aber festhalten kannst du Licht nicht. Du kannst Licht auch nicht in eine Tasche stecken. Oder in Säcke. Das versuchten nur die Bürger von Schilda, die auf diese Weise Licht in das Rathaus ihrer Stadt tragen wollten, weil sie vergessen hatten, Fenster einzubauen. Wie aber kannst du Licht mit dir umhertragen? In deinem Kopf. Als Gedanken. Als Bild in deinen Gedanken. Und indem du das, was das Licht macht, mit dir umherträgst: Zum Beispiel eine eingeschaltete Taschenlampe. Eine leuchtende Laterne. Oder eine brennende Kerze, wie sie der Junge auf Georges de La Tours Bild hat.