CHRISTIANE BRAUNE

Licht kann warm sein. Licht kann kalt sein.
 
Georges Seurat Ein Sommernachmittag auf der Insel La Grande Jatte 1884–86
 
Wie verzauberte Figuren stehen und sitzen und liegen die Menschen auf diesem Bild. Bewegungslos. Die beiden Segel auf dem Wasser sehen aus, als seien sie in ihrer weißen Wölbung erstarrt. Nur der kleine Hund mit der Halsschleife springt über die Wiese. Vielleicht ist es die Hitze der Sommersonne, die alles lähmt und in den Schatten zwingt. In die Schatten der Sonnenschirme. Schatten, mit denen es sich spazieren gehen lässt. Oder in die Schatten der Bäume, in denen es sich gut ausruht.

Den größten Schatten auf dem Bild macht etwas, das Seurat nicht gemalt hat. Das außerhalb des Bildraumes steht. Wahrscheinlich ist es ein Baum. Durch seinen Schatten wird er im Bild anwesend. Seurat hat ihn anwesend gemacht. Indem er schattige Wiese malte. Und dabei andere Farben verwendete als dort, wo er auf dem Bild sonnige Wiese malte. Wirkt nicht die große dunkle Schattenfläche vorne schwer? Das helle Licht im Bild – seine Leichtigkeit – gibt der dunklen Fläche ihre Schwere. Und die Frau, die mit gespitztem Schirm auf dieser Schattenfläche steht, scheint sie noch zu beschweren. Die Frau bleibt selbst im dunklen Raum des Bildes. Und zeigt dir doch den hellen Raum: Sie führt den Blick ins Bild hinein. In dieses helle Licht, das den großen Schatten auf dem Bild so schwer erscheinen lässt.
 
Der Maler Seurat hat das Bild aus winzigen Farbpunkten zusammengesetzt. Mit Hilfe eines Vergrößerungsglases, einer Lupe, kannst du es dir genauer ansehen. Winzige gelbe, blaue, grüne, graue, violette Punkte stehen auf der Fläche der Schattenwiese beieinander. Erst in deinem Kopf mischen sich beim Betrachten des Bildes die vielen Farben dann zu Dunkelgrün. Wenn du im Computer ein Urlaubsfoto von dir vergrößerst, mehr und mehr, wenn du es also unter die Computerlupe nimmst, dann wirst du sehen, dass auch ein solches Bild aus Farbpunkten besteht. Aus Rasterpunkten. Pixel. Und es kann sein, dass du in deinem stark vergrößerten Urlaubergesicht plötzlich rote Rasterpunkte entdeckst. Und gleich daneben gelbe, vielleicht auch grüne und blaue. Machst du das Bild wieder kleiner, können deine Augen nicht mehr jeden Punkt einzeln erkennen. Auch die Farbe der Punkte nicht. Und du siehst wieder Farbflächen, die du in deinem Kopf zu einem Bild zusammensetzt. Zu diesem Bild von dir mit sommerbrauner Haut.
Licht kann ins Nichts verschwinden.
 
Joan Miró Ein Hund bellt den Mond an 1926
 
Ein kleiner bunter Hund guckt ins Weltall. Was sieht er? Schaut er dem Etwas zu, das über die Leiter hinwegfliegt? Was könnte das sein? Vielleicht ein Traum? Mit rotrosafarbener Lenkvorrichtung, die dort, wo der Traum zu Ende ist, aussieht wie ein Schwanz? Bremst der Traum gerade im Flug mit seinem roten Fuß, um sich die Leiter zu betrachten? Oder ist er selbst die Leiter eben erst hochgestiegen und jetzt dabei, im Weltraum zu verschwinden? Vielleicht ist es ein Hundetraum? Vielleicht haben alle Hundeträume einen roten Schwanz? Oder ist der winzige rote Punkt im weißen Auge des Hundes nach oben gerichtet? Betrachtet der kleine Hund vielleicht den Mond? Oder verdreht er sein Hundeauge nur? Und erblickt gar nichts?
 
Es heißt, Hunde bellen manchmal den Mond an. Ob sie den Mond dabei auch anschauen? Was ist der Mond für einen Hund, wenn er ihn sieht? Was für ein Ding? Wie sieht er ihn? Vielleicht so, wie du ihn auf Mirós Bild sehen kannst?
Der Mond auf dem Bild glänzt weiß vor dem Schwarz des Weltalls. Wie auch die Hinterbacke des kleinen Hundes. Und der Rücken des Traums. Und die rechte Seite der Weltraumleiter. Hast du schon einmal ein Foto von einem Astronauten im Weltall gesehen? Erinnert dich das Weiß auf Mirós Bild nicht an das weiße Licht, das auf seinem Raumanzug lag? An das Licht der Sonne, das im unendlichen Weltall auf ein Hindernis trifft und es deshalb beleuchtet? Blendend weiß.
 
Woher kommt das Licht, das das Weiß auf Mirós Bild so glänzen lässt? Es kann nur von vorne, ein bisschen von rechts, von rechts unten kommen. Denn die beleuchtete Seite der Dinge zeigt dorthin, wo das Licht herkommt. Vielleicht ist es die Miró-Bild-All- Sonne. Die nicht zu sehen ist, weil sie sich außerhalb des Bildes befindet. Und deren Licht im unendlichen Schwarz des Weltalls verschwindet. Wenn es nicht etwas berührt, das in ihrem Lichtweg liegt. Und dieses Etwas dann beleuchtet: den Mond. Oder eine Himmelsleiter. Oder einen kleinen bunten Hund. Oder einen Traum mit rotem Lenkschwanz. Wo sitzt der Hund? Auf einem unentdeckten Planeten? Auf dem alles schattenlos ist? Siehst du, dass Miró in seinem Bild keinen Schatten gemalt hat?
Licht lässt sich spiegeln.
 
Parmigianino (Girolamo Francesco Maria Mazzola) Selbstbildnis im Konvexspiegel um 1524
 
Bist du es, der dich aus diesem Bild anschaut? Ein Spiegelbild ist es. Aber natürlich nicht deines. Und natürlich ist es kein Spiegel, auf den du schaust. Es ist ein Gemälde, auf dem du das Spiegelbild eines jungen Mannes dargestellt siehst. Es ist der Maler dieses Bildes. Wahrscheinlich saß er in einem Zimmer, in seinem weißen Hemd mit den weißen Manschetten und dem Pelzmantel darüber. Hinter sich das Fenster, durch das das Licht hereinkam. Vielleicht saß er vor einer runden, nach außen gewölbten spiegelnden Glasscheibe und malte. Er schaute in den runden Spiegel, dann auf das Bild, an dem er arbeitete. Immer abwechselnd. Wahrscheinlich saß er ganz still da. Und bewegte nur den Kopf. Nach rechts. Dorthin, wo seine Malerei stand. Und dann wieder zurück, um sich erneut genau im Spiegel zu betrachten, vor dem er saß. Mit dem Pinsel in der rechten Hand. Das ist die Hand, die auf dem Bild nicht zu sehen ist. Wie auch die Malerei, an der Parmigianino arbeitete, auf dem Bild nicht dargestellt ist.
 
Aber du siehst sie trotzdem. Sie liegt vor dir! In diesem Buch nur abgedruckt. Aber im Kunsthistorischen Museum in Wien könntest du sie dir anschauen. Und genau betrachten. Auch von der Seite. Und dabei würdest du sehen, dass Parmigianino sein Selbstbildnis auf eine gewölbte Oberfläche gemalt hat. Auf eine Oberfläche, wie sie der Spiegel hatte, in dem er sich anschaute. Parmigianino hat auf den abgeschnittenen Teil einer Holzkugel gemalt.

Hast du dich schon einmal in einem blank polierten Suppenlöffel betrachtet? Wenn du den Löffelstiel in die rechte Hand nimmst, in die große Wölbung schaust, die dir entgegenkommt, und dann deine linke Hand unter dein Gesicht hältst, kannst du dich ganz ähnlich sehen, wie der Maler Parmigianino sich gesehen hat. Dann ist auch deine Hand ungefähr doppelt so groß wie dein Gesicht. Wie groß ist deine Hand in Wirklichkeit, wenn du sie mit der Größe deines Gesichtes vergleichst?
Mit Licht lassen sich Worte schreiben.
 
Gerd Sonntag Ich hat das Licht von den Wänden gekratzt 2001/2007
 
Kannst du lesen, was auf dem Bild geschrieben steht? Der rote Punkt, links oben, ist ein »i«-punkt. Das erste Wort heißt ich. ich Hat dAS LichT von dEN WÄnden gEKRATzT.
 
Wer hat das Licht von den Wänden gekratzt? Ich. Nicht du. Nicht er. Nicht sie. Nicht es. Nicht Georg hat es von den Wänden gekratzt. Friedrich auch nicht. Ich hat das Licht von den Wänden gekratzt. Ein ungewöhnlicher Name, nicht wahr? Kennst du jemanden, der Ich heißt?
Einen Namen erhält man fast immer von anderen. Eltern suchen ihn für ihr Kind aus. Wenn das Kind seinen Namen erhalten hat, beginnen die Eltern, allen zu erzählen, wie es heißt. Mit welchem Namen das Kind genannt werden soll. Georg zum Beispiel. Oder Friedrich. Oder Christiane. Kennst du jemanden, der sich den Namen, mit dem er genannt wird, selbst gab? Weißt du vielleicht auch, warum er es tat? Manchmal geben sich Künstler einen Künstlernamen.
 
Ich ist ein ganz besonderer Name. Jeder kann ihn haben. Aber jeder kann ihn nur sich selbst geben. Niemand kann einem anderen den Namen Ich geben. Wer ich sagt, spricht immer von sich. Wenn du ich sagst, meinst du dich. Wenn du dir den Namen Ich gibst, erhält etwas ganz Besonderes in dir einen Namen. Jenes Ich, von dem du selbst sprichst, als sei es ein Es. Ein König. Eine Majestät. Von dem du deshalb sagst: Ich hat. Und nicht, ich habe.
 
Ich hat das Licht von den Wänden gekratzt, heißt es auf Gerd Sonntags Bild. Der Maler spricht von seinem Ich. Nun stell dir vor, wie Ich das Licht von den Wänden kratzt. Wie Ich das wohl macht? Warum? Und womit? Mit den Fingernägeln? Erscheint das Weiß auf dem Bild als das kostbare Licht, das Ich von den Wänden gekratzt hat? Halten es die Buchstaben auf dem Bild fest? Oder erscheinen die Buchstaben wie eine geheime Botschaft auf der Malfläche? An jenen Stellen des Bildes, an denen Ich Licht gekratzt hat? Was meinst du?
Ohne Licht kann niemand sehen.
 
Vermeer van Delft (Johannes Vermeer) Dame mit Perlenhalsband um 1662/65
 
Nichts bewegt sich auf dem Bild. Stille. Ein gemalter Augenblick. Ein Blick in eine fremde Welt. Voll Licht. Und Dunkelheit. Wohin schaut die junge Frau? Dorthin, woher das Licht kommt? Zum Fenster? Sie schaut in den Holzrahmen an der Wand. Was gibt es dort zu sehen? Ein Bild? Ein Bild von ihr selbst. Es muss ein Spiegel in dem Rahmen befestigt sein. Betrachtet sie sich in ihm? Schaut sie ihre glänzenden Perlenohrringe an? Ihr Haar? Vielleicht die rote Schleife darin? Oder schaut sie die Halskette an, deren Enden sie in ihren Händen hält? Ihr Gesicht erzählt nichts davon. Nichts von alledem. Nichts von einer Halskette, von Ohrringen oder von Haaren mit roter Schleife. Es erzählt auch nichts von einer Empfindung, von Freude oder Ärger.
 
Du siehst eine junge Frau, die in einen Spiegel schaut. Die sehen kann. Sehen. Wie du. Wie würdest du Sehen malen? Vermeer hat es so gemalt, wie du es hier siehst. Mit viel Licht. Weil die Augen ohne Licht nicht sehen können. Und mit viel Dunkelheit. Weil Dunkelheit auf diesem Bild das Licht erst macht. Und leuchten lässt. Und umgekehrt. Das Licht macht Dunkelheit auf diesem Bild. Siehst du den hellen Lichtfleck unterm Tisch? Wenn du ihn abdeckst, wirkt die dunkle Fläche nur noch schwarz. Und tot. Der kleine Lichtfleck macht die Dunkelheit lebendig. Den großen dunklen Schatten auf Seurats Bild erweckt etwas zum Leben, das aussieht wie ein kleines x. Entdeckst du es?
Licht ist Wirklichkeit.
 
Mischa Kuball, Riken Yamamoto, Beda Faessler Lichtbrücke Berlin 2004
 
Nacht in einer großen Stadt. Berlin. Fenster leuchten, Häuser werden angeleuchtet. Lampen scheinen. Ein dunkles Wasser spiegelt Licht. Es ist die Spree. Ein zweites Wasser wölbt sich. Blau. Über den dunklen Fluss. Fließt das helle blaue Wasser? Will es verweilen? Was hält das Wasser fest? Die Brücke, über die es hell sein leuchtendes Blau ausbreitet? Warum fließt das Wasser nicht weg?

Hoch über dem Dunkel der Spree und neben dem Blau des Wassers auf der Brücke warten Laternen am Geländer. Sie leuchten nicht. Sie schweigen. Aber das blaue Wasser leuchtet – hell – wie das Wasser eines Swimmingpools im Sonnenlicht. Bei Nacht? Dunkler Nachthimmel. Und ein sonnenhelles Becken? Wasserblau. Schimmern. Schaukeln. Mit einem kräftigen Atemzug die Nachtluft in den Körper strömen lassen und dann – ein Sprung! Eintauchen! Sich in einem Wasserbecken frei bewegen, unter dem das Wasser eines Flusses in der Nacht dahinfließt. Ist das nicht verlockend?
 
Das verlockend leuchtend blaue Wasser auf der Brücke ist eine Illusion. Weißt du, was das ist – eine Illusion? Etwas, was du siehst, ist nicht da. Das blaue Wasser auf der Brücke ist nicht da. Ein Bild täuscht deinen Augen das helle, leuchtend blaue Wasser vor. Kein Bild aus Farbe auf der Leinwand eines Malers. Ein Bild aus Licht auf der Friedrichsbrücke in Berlin. Lichtbrücke. Ein Kunstwerk, das es einige Nächte lang gab. Ein Kunstraum unter freiem Himmel. Ein Gebiet aus Kunst in einer Stadt. Du hättest über die Brücke spazieren können. Eingetaucht in wasserblaues Licht. Ohne dieses Licht wäre es kein Kunstgebiet. Nur eine Brücke in der Stadt.

Es gibt Kunstwerke, die du anfassen und bei dir tragen kannst. Ein Gemälde zum Beispiel. Und die Lichtbrücke? Könntest du das Licht bei dir tragen, das wie blaues Wasser auf der Brücke leuchtet? Und die Brücke? Selbst wenn es möglich wäre, die Brücke einzustecken – stell es dir vor –, ohne das Licht, ohne das hellblaue Wasser, hättest du nur Steine in der Tasche. Hättest du das Kunstwerk bei dir? Dein Lieblingsbild hängt auch bei Dunkelheit an seiner Wand. Auch ohne Licht ist es noch da. Wenn aber auf der Friedrichsbrücke das Licht ausgeht, verschwindet auch das Kunstwerk. Weil die Lichtbrücke nur so lange besteht, wie das Licht leuchtet. Wie das Licht mit der Brücke leuchtet.
 
Du kannst in Licht eintauchen, aber festhalten kannst du Licht nicht. Du kannst Licht auch nicht in eine Tasche stecken. Oder in Säcke. Das versuchten nur die Bürger von Schilda, die auf diese Weise Licht in das Rathaus ihrer Stadt tragen wollten, weil sie vergessen hatten, Fenster einzubauen. Wie aber kannst du Licht mit dir umhertragen? In deinem Kopf. Als Gedanken. Als Bild in deinen Gedanken. Und indem du das, was das Licht macht, mit dir umherträgst: Zum Beispiel eine eingeschaltete Taschenlampe. Eine leuchtende Laterne. Oder eine brennende Kerze, wie sie der Junge auf Georges de La Tours Bild hat.