CHRISTIANE BRAUNE

Wasser hat Kraft.
 
Max Beckmann Landungskai im Sturm 1936
 
Ein Meerbild. Sturm. Wellen, die so hoch sind, dass sie den Horizont verdecken. Hast du schon einmal gesehen, wie eine Welle gegen das Ufer schlägt? Und wie sich eine Welle zurückzieht? Ihr Wasser dabei wieder mitnimmt, um sich erneut aufzubäumen und mit voller Wucht gegen das Ufer zu schlagen? Auf dem Bild von Max Beckmann entsteht vor der Kaimauer gerade ein Loch im Wasser. Ein Trichter, der einen Sog erzeugt. So ähnlich wie im Abfluss der Badewanne. Entsteht auf dem Bild nicht der Eindruck, als würde der Trichter das Wasser so stark von der Mauer wegziehen, dass du gleich den Grund der Kaimauer sehen kannst? Für einen Augenblick? – Zu spät. Da kommt schon die nächste Welle und schlägt gegen die Mauer. Max Beckmann hat sie nicht gemalt. Aber kannst du sie dir vorstellen?

Über den Wellenbergen flammt ein roter Farbfleck. Warum hat Max Beckmann ihn dorthin gemalt? Plötzlich Rot. Im Blau, Schwarz, Weiß, Grün, Braun. Vielleicht erkennst du eine Bedeutung dieses roten Farbflecks für das Bild, wenn du ihn mit den Fingern verdeckst. Am besten von oben. So, dass du das Bild immer noch gut anschauen kannst. Wie hat sich das Bild verändert?
Wasser ist wild.
 
Ludolf Backhuysen Stürmische See an bergiger Küste 17. Jh.
 
Noch ein Meerbild. Sturm. Tosende, aufgebrachte Wassermassen. Der Sturm wirft eine Welle gegen einen Felsbrocken. Ihr Wasser spritzt hoch auf. Schiffe sind in Gefahr, von den gewaltigen Wellen so heftig gegen die Felsen geschleudert zu werden, dass sie zerbrechen. Ist das Schiff, von dem nur die geneigten Masten zu sehen sind, schon verloren? Und das kleine Boot mit dem geblähten braunen Segel? Was werden Sturm und Meer noch mit ihm machen? Ist es nicht erstaunlich, dass es sich bei diesem Seegang noch aufrecht hält? Wie kann es die riesigen Wellenberge befahren haben und die tiefen Wellentäler, ohne umzukippen?
 
Ob die nächste Wellenwand, wenn sie sich aufrichtet, das kleine Boot doch noch ins Meer zurückzieht und dort verschlingt? Wie ein Riese, der erst tief einatmet und sich dann in voller Größe erhebt? Die Arme dabei hochreißt und mit beiden Händen ein Wildschwein ergreift, um es sich in sein Riesenmaul zu stecken? Ein Turm im dunklen Schatten. Und ein Turm im Licht. Sonne! Sie scheint draußen auf dem Meer. Über dem Meer ist der Himmel schon blau. Der Sturm zieht weg. Und nimmt seine dunkelgrauen Wolken mit.
 
Der Maler hat dem Himmel auf seinem Bild viel Platz gegeben. Hat Ludolf Backhuysen vielleicht doch kein Meerbild, sondern ein Himmelbild gemalt? Woher kommen die gewaltigen Kräfte, die ein Meer so in Bewegung bringen, wie du es auf dem Bild sehen kannst?
Wasser fließt.
 
Giovanni del Biondo Der Hl. Julianus trägt einen Wanderer über den Fluss 1365
 
Ein goldenes Bild. Mit leuchtendem Rot. Und verschiedenem Blau. Und Grau. Und Braun. Warum trägt ein Mann einen anderen Mann? Warum trägt jemand einen anderen durch einen Fluss? Der Fluss hat eine starke Strömung. Er kommt aus den Bergen. Das Wasser zieht an den nackten Beinen des Mannes im roten Gewand. Auch an seinem Stab, den er zu Hilfe genommen hat. Das fließende Wasser schäumt an diesen Hindernissen weiß auf. Der Mann im roten Gewand hat nur eine Hand frei, um den Alten auf seinem Rücken festzuhalten. Der Alte klammert sich an den Kopf seines Trägers. Er wirkt steif. Als hätte sein Körper keine Kraft mehr. Als hätte er keine Kraft mehr, sich selbst zu bewegen. Als könnte er nicht mehr alleine gehen.
 
Giovanni del Biondo hat sein Bild zu einer alten Geschichte gemalt. In einer Gewitternacht hört der Heilige Julianus eine Stimme um Hilfe rufen. Julianus findet einen kranken Wanderer, der vor Kälte halbtot ist. Er trägt ihn durch den Fluss in sein Haus, damit der Wanderer sich dort aufwärmen kann. In einer Gewitternacht? Giovanni del Biondo hat keine Gewitternacht gemalt. Und er hat auch nicht dargestellt, wie Julianus den Wanderer durch den Fluss in sein Haus trägt. Auf Giovanni del Biondos Bild trägt Julianus den Wanderer vom Hause weg durch den Fluss. Aber den Wanderer hat der Maler wie in der Geschichte dargestellt: Steif. Vor Kälte!
Tränen sind Wasser aus Freude. Oder aus Schmerz.
 
Pablo Picasso (Pablo Ruiz y Picasso) Weinende Frau 1937
 
Siehst du die Tränen in den Augen der Frau? Und die Tränen unter ihren Augen? Auch über die Wange läuft eine Träne hinab. Picasso hat das Gesicht der Frau zerlegt. Er hat es in Formen zerlegt. In Farben. Und in Flächen. Er hat das Gesicht aufgebrochen und neu zusammengesetzt. Zwischen den Augen ist ein Loch entstanden. Da kann man in den Kopf hineinschauen. Schwarz ist es in seinem Inneren. Wo ist die Nase?
 
Die Frau beißt in ein Taschentuch, das sie in der Hand hält. Sie ist sehr verzweifelt. Vielleicht beißt sie in das Taschentuch, damit sie nicht laut weinen muss. Warst du schon einmal so traurig wie die Frau auf dem Bild? In welchen Farben würdest du einen traurigen und verzweifelten Menschen malen? Ein weinendes Gesicht kann hässlich aussehen. Oder sehr schön. Erinnerst du dich an das Gesicht der jungen Frau auf Caravaggios Bild, das du gerade gesehen hast? Ob man in das Innere eines Menschen schauen kann, in seine Seele, wenn man in sein weinendes Gesicht sieht?
Träume segeln manchmal übers Wasser.
 
René Magritte Le Séducteur 1951
 
Ein Segelschiff fährt übers Meer. Es hat eine kleine weiße Welle unterm Bug. – Aber da stimmt doch was nicht! Natürlich kann ein Segelschiff nicht aus Wasser gebaut sein. Magritte hat etwas gemalt, was nicht sein kann. Aber das Boot auf dem Bild segelt so leicht über das Wasser dahin ... So blau ... So weiß ... Der hintere Mast taucht gerade in eine Wolke ein ... Und fast glaubt man, das Boot schaukeln zu sehen ... Möchtest du mitschaukeln? Dann steig ein. Magritte hat das Bild »Verführer« genannt. Wie ist etwas, wenn es verführerisch ist?
Aus den Händen der Götter ist Wasser kostbarer als Gold.
 
Candid (Pieter de Witte) Aeneas wird von Venus in den Olymp aufgenommen Ende 16./Anfang 17. Jh.
 
Das Bild von Candid ist voller Zeichen. Es spricht in einer besonderen Sprache zu dir. Einer Art von Zeichensprache. Nur wenn du die Bedeutung der Zeichen kennst, kannst du diese Zeichensprache verstehen. Und das Bild. Wie du die Bedeutung von Worten kennen musst, bevor du ein Buch lesen und verstehen kannst.
Hoch oben auf der Wolke sitzt ein Mann. Er hat zwei Blitze in der Hand und einen Adler zu Füßen. Die Blitze und der Adler sind solche Zeichen. Sie sagen dir, dass es nicht irgendein Mann ist, der da auf der Wolke sitzt. Es ist der Gott Jupiter. Jupiter ist der höchste römische Gott. Andere Göttinnen und Götter siehst du im Halbkreis in den Wolken sitzen. Einen dieser Götter kennst du vielleicht, weil du sein Zeichen kennst. Siehst du den Dreizack? Er gehört Neptun. Dem Gott des Meeres.
 
Die Götter wohnen im Olymp. Das ist ein besonderer Ort. Nur die Götter dürfen dort sein. Und die, denen es die Götter erlauben. Die Frau im goldenen Wagen ist auch eine Göttin. Ihr Wagen wird von zwei weißen Tauben gezogen. Auch das sind Zeichen. An ihnen erkennst du, dass es die Göttin Venus ist. Sie ist die Göttin der Liebe. Sie wurde aus dem Wasser, dem Schaum des Meeres geboren. Der Mann vor ihr ist ihr Sohn. Er heißt Aeneas. Er ist ein Held. Venus begießt Aeneas mit Wasser. Sie tut es nicht, um ihn zu erfrischen. Es ist ein Ritus. Eine Handlung, der eine bestimmte Bedeutung beigegeben ist: Mit dem Wasserguss auf seinen Kopf ist Aeneas in den Olymp der Götter aufgenommen.
 
Was glaubst du, warum Venus für ihren Ritus Wasser nimmt? Und Aeneas zum Beispiel nicht dreimal am linken und danach noch dreimal am rechten Ohr zupft oder selbst drei Purzelbäume schlägt, um ihn in den Olymp aufzunehmen? Hast du schon einmal eine rituelle Handlung gesehen, die dir sehr komisch vorkam? Über die du vielleicht sogar zunächst lachen musstest, weil du ihre Bedeutung nicht verstanden hast?